Stauffenbühl, 19. Juni, 3:45 Uhr – Frierend, unausgeschlafen und mit anfänglich etwas unkoordinierten Bewegungen schieben einige Gestalten, die im Dämmerlicht kaum auszumachen sind, die schweren Metalltore der Flugzeughallen zur Seite und fangen an, die ersten Segelflugzeuge ins Freie zu bugsieren. Durch die Stille dröhnt der großvolumige Dieselmotor des Winden-LKWs, der Schlepptrecker wird gestartet und nach einigen Versuchen springt auch der „Lepo“, der Seilrückholwagen, an. Immer neue Gestalten treffen ein, begrüßen sich kurz und helfen den anderen beim Aufbauen.
Trotz der Dunkelheit beginnt der normale Flugbetrieb. Der Startbus wird zur Startstelle gefahren, wo bereits die ersten Flugzeuge aufgereiht sind. Der Winden-LKW wird in Stellung gebracht, gesichert und geerdet. Der Lepo zieht die beiden Schleppseile von der Winde über das etwa 900 Meter lange Flugfeld bis hin zu den Segelflugzeugen an der Startstelle. Die Morgenröte taucht die ganze Szenerie nun in erste zarte Farben. Flugzeuge, Flugfeld und Startwagen lassen sich immer besser ausmachen. Wärmer ist es allerdings noch nicht. Das Thermometer des Startwagens zeigt 8,5 Grad. Zitternd werden die Segelflugzeuge durchgesehen und überprüft. Je heller die Morgenröte wird, desto besser wird die Stimmung auf dem Startplatz. Die frühmorgendliche Müdigkeit weicht der frohen Erwartung der ersten Segelflugstarts.
Pünktlich mit „Sunrise“ ist es dann endlich so weit: Das erste Segelflugzeug wird eingeklinkt, der Helfer hebt die Tragfläche, der Startleiter gibt das Startkommando an die Winde weiter. Das Seil strafft sich und auf das „Fertig“ des Startleiters hin, zieht die Winde das Segelflugzeug mit etwa 100 Stundenkilometern in den wolkenlosen Morgenhimmel hinein. Nach dem Ausklinken ist es still. Die ruhige Morgenluft umströmt das Segelflugzeug, das fast lautlos durch den Himmel gleitet.
Faszinierende Blicke und Aussichten sind der Lohn für das frühe Aufstehen: Nebelschwaden quellen aus den Werra-Auen, doch die darüber liegenden Luftschichten sind glasklar. Der rote Sonnenball ist aus der Ausklinkhöhe von etwa 300 Metern bereits zu sehen, verschwindet aber wieder aus dem Blickfeld sobald das Flugzeug tiefer gleitet.
Da zu so früher Stunde keine Thermik herrscht, können nur etwas verlängerte Platzrunden geflogen werden. Die Segelflugzeuge starten und landen in schneller Folge, damit jeder mindestens einmal die Gelegenheit hat, in der Luft zu sein, bevor die Sonne ganz den Sprung über die Hügel im Osten Eschweges geschafft hat. Geflogen wird dann den ganzen Tag. Willkommene Unterbrechung ist das gemeinsame Frühstück, das gegen 08.00 Uhr stattfindet. Die etwas ungeduldige Frage „Wann gibt’s denn endlich Frühstück?“, ist allerdings bereits seit mindestens einer Stunde des Öfteren zu hören. Und das ist auch kein Wunder, schließlich wissen alle, dass Dieter Kohl in bewährter Manier ein opulentes Frühstücksbuffet zaubert, bei dem auch bayerische Brezeln und Leberkäse mit dabei sind.
Wer meint, dass Sonnenaufgangsfliegen sei ein alter Segelfliegerbrauch, irrt. „Erfunden“ wurde das Sonnenaufgangfliegen vor noch gar nicht so langer Zeit – und das auf dem Stauffenbühl. Vor acht Jahren hatte Thomas Lückert, der ehemalige Ausbildungsleiter des ELV, an einem lauen Sommerabend beim Vereinsgrillen die Idee. „Morgen früh werd’ ich bei Sonnenaufgang fliegen. Wer fliegt mit?“, fragte er in die Runde. Als die Grillrunde dann im Morgengrauen fast vollzählig zum Fliegen erschien und einzigartige Flugeindrücke sammeln konnte, war eine neue Tradition geboren – das Sonnenaufgangsfliegen.
(Thomas Schirmer)